Zeit für Ruhe?
Der letzte Arbeitstag für Sylvia Bethge hat begonnen: Am 31. Januar 2021 tritt unsere Mitarbeiterin in der Lern- und Lehrwerkstatt W.i.d.Z. ihren wohlverdienten Ruhestand an. Für Anja Quilitz, Leiterin der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung Bergvilla, ist die Verabschiedung von Sylvia Bethge auch ein bewegender Moment.
Ich fand immer: Ein bisschen muss man schon das sprichwörtliche „Mädchen für alles“ sein und sich in Gesellschaftswissenschaften, in Ethik und Musik, in Religion und Biologie, manchmal auch auf Englisch, zurechtfinden. Und Tipps und Ratschläge in Handarbeit und Kochen können auch nützlich sein. Wer das alles kann, kann auch am W.i.d.Z. lehren …
Sylvia Bethge konnte das. Und so brachte die Lehrerin an der Karl-Sellheim-Schule in Eberswalde beste Voraussetzungen mit, als der ASB Regionalverband Barnim im Jahr 2006 ein neues Projekt startete: die Lern- und Lehrwerkstatt W.i.d.Z. für schulverweigernde Mädchen und Jungen.
Wege kreuzten sich
Kunst und Deutsch hatte Sylvia Bethge einst studiert und mich selbst in diesen Fächern vor vielen Jahren unterrichtet. Seit damals kreuzten sich also immer wieder unsere Wege. Vieles haben wir in den zurückliegenden Jahren gemeinsam gestemmt. Wir haben Ideen verwirklicht, uns gegenseitig unterstützt und gefordert. Und das – trotz aller Ernsthaftigkeit, allem Engagement und Enthusiasmus – immer auch mit Sinn für Spaß, Freude und manchmal echtem Schabernack.
Jahrelang pendelte Sylvia Bethge zwischen verschiedenen Standorten: die Karl-Sellheim-Schule im Stadtzentrum einerseits, andernorts eine „halbe“ Halle, die wir 2006 in einem Gewerbepark für unser neues Projekt gemietet hatten. Erst später bezogen wir die neuen Räume, in denen unsere Lern- und Lehrwerkstatt auch heute noch zu finden ist.
In den Anfangsjahren bedeutete diese Vielörtlichkeit jede Menge organisatorischen und zeitlichen Aufwand. Sylvia Bethge musste Zeit und Engagement gut planen, um Schule und Projekt „unter einen Hut“ zu bringen. Erst mit der Zeit absolvierte sie durchgängig all ihre 23 Lehrerwochenstunden bei uns im W.i.d.Z. Aber auch dann verlangten sich verändernde Projektbedingungen, neue Mitarbeiter*innen oder sich zuspitzende Herausforderungen durch betreute Schüler*innen von Sylvia Bethge ständige Flexibilität. Nur so konnte sie engagiert neue Projekte, neue Stundenpläne und Lernkonzepte angehen.
Mit Offenheit und ruhiger Gelassenheit gegen Verweigerung
Dabei gelassen zu bleiben und Neuem gegenüber offen, ist eine der bemerkenswertesten Eigenschaften von Sylvia Bethge. Das forderte ihr viel Kraft ab, vor allem angesichts der ungewöhnlichen, oft anstrengenden Schülerschaft, dem sich unser Projekt seit 15 Jahren widmet: Unsere Lern- und Lehrwerkstatt leistet Hilfe für Schüler*innen der 9. Jahrgangstufe, die sich hartnäckig einem geregelten Schulalltag verweigern. Oft sind dabei Drogenkonsum, verbale Entgleisungen, auch Respektlosigkeit gegenüber Lehrer*innen und Betreuer*innen alltägliche Begleiterscheinungen.
Trotzdem auf die Probleme, die Belange und Besonderheiten der jungen Leute - deren familiäre, soziale Herkunft nicht selten tiefgreifende Spuren in ihnen hinterließen - einzugehen und mit Verständnis zu reagieren, aber auch unnachgiebig zu bleiben, wenn notwendig – das konnte Sylvia Bethge. Die Schüler*innen dankten ihr diese liebevolle, mütterliche, immer ruhige Art nicht selten mit Offenheit, wenn sie privateste Dinge „ihrer Frau Bethge“ anvertrauten. Manchmal, bevor es die eigenen Eltern erfuhren.
Was bleibt
Immer wieder das Vertrauen der jungen Menschen gewinnen zu können, kam Sylvia Bethge auch bei einer Besonderheit zugute, die unsere Arbeit mit den jungen Menschen in unserer Obhut prägt: Sie - die keine Schulprüfungen im herkömmlichen Sinn ablegen müssen - sollen im Laufe unserer Betreuung dennoch prüfungsähnliche Erfahrungen machen.
So wurde es zu einer wichtigen Aufgaben von Sylvia Bethge den Projektunterricht so zu gestalten und zu entwickeln, dass sich Theorie und Praxis miteinander verbinden konnten. Viele persönliche Erfahrungen, manchmal auch Leidenschaften kamen Sylvia Bethge dann zugute. Sie lehrte Handnähen und Häkeln, sie entwickelte ein eigenes Kochbuch für die Küche unserer Lern- und Lehrwerkstatt und gestaltete gemeinsam mit den jungen Leuten über Jahre hinweg die Chronik unseres Projektes. Viele dieser Collagen, Pläne, Bilder und Erlebnisse finden sich an den Wänden unserer Projekträume wieder. Und sie werden da auch bleiben und die Arbeit von Sylvia Bethge so für eine ganze Zeit nachhallen lassen.
Auch nach Ihrem letzten Arbeitstag, liebe Frau Bethge, bleiben Sie uns also vertraut und präsent.
Danke, Ihre Anja Quilitz und das gesamte Projektteam.